Hilfe für Geflüchtete ohne Schulerfahrung
Stuttgarter Zeitung | 04.02.2025
In Weilimdorf haben Stadt, Land und die Vector-Stiftung eine neuartige Lernwerkstatt für zugewanderte Jugendliche geschaffen.
Stadt und Land gehen bei der schulischen Integration von Geflüchteten neue Wege. Mit finanzieller Unterstützung der Firma Vector Informatik konnte am Montag in Weilimdorf eine neuartige Lernwerkstatt der dortigen Gemeinschaftsschule eröffnet werden. In dem Pilotprojekt im Industriegebiet des Stadtbezirks werden geflüchtete und andere neu zugewanderte Jugendliche, die in ihren Herkunftsländern bisher gar nicht oder kaum die Schule besucht haben, alphabetisiert und an das hiesige Schulsystem herangeführt.
Auf zwei Stockwerken mit rund 1000 Quadratmetern, die bisher als Büroräume genutzt wurden, ist eine ansprechende Schullandschaft entstanden mit vier Klassenzimmern, Differenzierungsräumen, einem Computerraum, einer kleinen Bibliothek, einem Bewegungsraum sowie Aufenthaltsbereichen und zwei Außenflächen. Das Erdgeschoss wurde Mitte Oktober in Betrieb genommen, nun, nachdem die zweite Ebene mit einer Fluchttreppe nach außen versehen wurde, feierten die Beteiligten Einweihung. Derzeit werden dort 35 Jugendliche beschult. Wenn alle vier Klassen belegt sind, werden es bis zu 60 Kinder sein. Sie kommen unter anderem aus Syrien, Afghanistan, Iran, Rumänien und der Ukraine, darunter sind auch einige Kinder aus Roma-Familien. Allen gemeinsam ist, dass sie noch keine oder kaum Schulerfahrung haben, obwohl sie schon elf bis 14 Jahre alt sind. Das macht ihre Integration ins Schulsystem schwierig.
In Stuttgart gebe es derzeit 79 sogenannte Vorbereitungsklassen (VKL) mit mehr als 1300 Schülern, sagt Birgit Popp-Kreckel, die stellvertretende Leiterin des Staatlichen Schulamts. Für die Jugendlichen ohne Schulerfahrung, die in relativ kurzer Zeit ins Schulsystem integriert werden müssen, brauche es aber umfangreichere Angebote. Die Kinder brächten zwar viel Potenzial mit, aber auch einen großen „Problemrucksack“, sagt Birgit Popp-Kreckel. „Ihnen nur die Sprache beizubringen, reicht nicht.“
Das sieht man auch in der Abteilung Bildungspartnerschaft der Stadt Stuttgart so. Da passte es gut, dass die Vector-Stiftung des gleichnamigen, in Weilimdorf ansässigen Herstellers von Softwarewerkzeugen und Hardwarekomponenten für Softwareentwickler, die ihren Schwerpunkt im Bildungsbereich hat, sich auf dem Feld engagieren wollte. Unweit des Firmensitzes befindet sich eine große Flüchtlingsunterkunft. Und so ließ das Unternehmen freie Büroräume für die Lernwerkstatt umbauen.
In anderen Vorbereitungsklassen gingen diese Kinder unter, „hier sind sie im Mittelpunkt“, sagt Edith Wolf, Vorständin der Vector-Stiftung, die das Projekt mit den Partnern vorangetrieben hat. Nun werden die Jugendlichen, die aus der ganzen Stadt kommen, von drei im VKL-Bereich erfahrenen Lehrkräften und von Sozialpädagogen der Evangelischen Gesellschaft wochentags von 8 bis 16 Uhr unterrichtet und betreut. Man verfolge ein „ganzheitliches Konzept“, das neben dem Spracherwerb und Mathematik auch Demokratiebildung, Selbstorganisation, digitales Lernen sowie soziale und kulturelle Kompetenz umfasst, erläuterte Nikolaus Arndt, der Leiter der Gemeinschaftsschule Weilimdorf, das Vorgehen.
Angesichts der recht schnellen Umsetzung des Projekts von nur neun Monaten mit
vielen Partnern war die Stimmung bei der offiziellen Eröffnung aufgeräumt. „Bildung ist
der Schlüssel zu allem“, begründete der Geschäftsführer von Vector Informatik, Thomas Beck, das Engagement. „Damit hilft man den Menschen und der Gesellschaft.“ Mit dem Projekt wolle man „jungen Menscheneine Chance auf Bildung geben, die sie sonst nicht hätten“. Vector Informatik hat rund 4000 Beschäftigte, 2023 betrug der Umsatz 1,16 Milliarden Euro. Die Vector-Stiftung besitzt 60 Prozent der Firmenanteile.
Stuttgarts Bildungsbürgermeisterin Isabel Fezer (FDP) nannte die Eröffnung einen „Festtag“. Sie dankte Vector dafür, das Projekt möglich gemacht zu haben. Die Firma überlässt die Räume der Stadt für den Projektzeitraum von fünf Jahren kostenlos. Die Lernwerkstatt sei mit ihrer Kooperation von Unternehmen, Stiftung und öffentlicher Hand ein „völlig außergewöhnliches Projekt“, das man auch dringend brauche. „Wenn wir solche Angebote nicht machen, dann würden wir die Kinder aufgeben – das wäre eine Kapitulation“, betonte Fezer.
Beteiligt an dem Projekt sind unter anderem auch das Gemeinschaftserlebnis Sport des Sportkreises, die Künstlerinitiative Arthelps, das Projekt Künstlerhelden sowie die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. Neben der Vector-Stiftung fördern weitere Partner die Lernwerkstatt, etwa die Bauder-Stiftung, Ferry-Porsche-Stiftung, Frauen helfen Frauen, die LBBW-Stiftung sowie die Louis-Leitz-Stiftung.
Auch für das Land hat das Projekt große Bedeutung. Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) erklärte bei der Eröffnung, für Kinder und Jugendliche, die Flucht und andere traumatische Erfahrungen erlebt hätten, benötige man eine „passgenaue Unterstützung“. Diese sei für alle „ein Segen“. Schopper dankte allen Beteiligten für ihr Engagement. Es entstehe etwas „Wegweisendes“. Man werde das Pilotprojekt evaluieren, und sie hoffe, „dass wir das im ganzen Land ausrollen können, dass es auch anderen Kindern zugutekommt“, so Schopper. Derzeit würden mehr als 50 000 Flüchtlingskinder in Baden-Württemberg beschult.