Sehnsucht nach mehr Grün
Stuttgarter Zeitung | 21.08.2021
Seit der Coronapandemie will fast jeder zumindest eine kleine Gartenecke haben. Aber wie soll das gehen, wenn Grundstücke immer knapper und teurer werden?
400 Quadratmeter. Das war früher ein Haus mit kleinem Garten. Heute stehen auf dieser Fläche gleich zwei Häuser – und die Bewohner sind unglaublich froh, mitten in Stuttgart überhaupt eine Terrasse, ein bisschen Grün und einen gemeinsam genutzten Hof zu haben. „Wenn ich in einem dicht bebauten Gebiet wohnen will, muss ich mir schon die Frage stellen: Wie viel des knappen Platzes darf ich für mich beanspruchen?“ findet Ina Walden.
Walden ist Architektin und wohnt mit ihrer Familie in einem der beiden 120 Quadratmeter kleinen Häuser in Stuttgart-Kaltental. Als die Walden damals im Jahr 2014 zusammen mit einem befreundeten Architektenpärchen auf so engem Raum bauten, begegnete ihnen auch viel Unverständnis. Der wenige Platz, die Freunde als Nachbarn und dann auch noch ein gemeinsam genutzter Außenbereich: Das kann doch nur Ärger geben, so die Warnung.
Die Bewohner sehen es bis heute gelassen, immerhin haben sie das, wovon spätestens seit der Coronapandemie so viele Deutsche träumen: einen eigenen Garten. Zwar misst der im Falle der Waldens nur süße 35 Quadratmeter. „Der Platz reicht und aber wunderbar für einen Sitzplatz, Hängematte, Grill“ sagt Ina Walden. Dazwischen passt sogar noch die Voltigier-Tonne, auf der die beiden Töchter ihre Reitkunststücke üben können. Was will man mehr?
Es ist noch gar nicht so lange her, da wurden kleine Grünflächen wie die der Waldens mitleidig als Handtuch-Gärten belächelt. Früher fing ein typischer Einfamilienhausgartn mal bei 300 Quadratmetern an. Bot Platz für mehrere große Bäume, Gemüsebeete, Sandkasten und Gartenhäuschen. Das Rasenmähen dauerte locker eine Stunde. Aber dann explodierten die Grundstückspreise, insbesondere in Ballungszentren wich immer mehr Grün zugebauter Fläche. Heute gilt ein bisschen Rasen mit Zaun drum herum an vielen Orten in Deutschland als Luxus. Nur 36 Millionen Personen ab 14 Jahren leben hierzulande noch in einem Haushalt mit Garten, weiß das Statistische Bundesamt. Davon träumen aber tun im Jahr 2020 die meisten Deutschen, so eine Untersuchung des Wirtschaftsforschungsinstituts IW. Dank Corona ist der eigene Garten zum neuen Sehnsuchtsziel der Deutschen mutiert.
Denn die Lockdowns offenbarten, wie privilegiert es sich doch selbst mit einem Handtuch-Garten lebt. Hauptsache, man kann dort auf der Terrasse eine Hängematte aufspannen und darin in den ausgefallenen Urlaub schaukeln. Mit den Füßen im Planschbecken das geschlossene Freibad vergessen. Die Homeoffice-Mittagspause entspannt im Freien statt am engen Küchentisch verbringen.
So verwundert es nicht, dass der Großteil der von der Bausparkasse LBS im August 2020 befragten Mieter und Eigentümer zwischen 20 und 45 Jahren sagt: „Wenn wir das nächste Mal umziehen, dann wollen wir mehr Garten oder zumindest mehr Balkon haben!“ Es verwundert deshalb auch nicht, dass die Immobilienpreise für Einfamilienhäuser seit Beginn der Pandemie erneut um satte 10,8 Prozent gestiegen sind, so das Institut der deutschen Wirtschaft Köln. Denn: Die gewachsene Sehnsucht nach dem eigenen Grün steht im krassen Widerspruch zum knappen Angebot.
Extrem gefragt sind einst verpönte Schrebergärten
Und das gilt nicht nur für den klassischen Einfamilienhaus-Garten – egal ob parkgroß oder handtuchklein. Das gilt selbst für eine noch vor wenigen Jahren als spießig verpönte Zelle einer Schrebergartenanlage mit günstigen Pachtpreisen. In Stuttgart etwa werden die Kleingarten-Vereine seit Beginn der Coronapandemie derart mit Anfragen überhäuft, dass sie ihre Kontaktdaten von der Homepage löschen und Wartelisten sperren müssen.
„Wahnsinn“ sagt Stephan Arnold (56), Garten- und Landschaftsbauer aus Leinfelden-Echterdingen. Er erinnert sich gut an reihenweise verwilderte Parzellen in Kleingarten-Anlagen, die keiner haben wollte. „Das ist jetzt vielleicht zehn Jahre her“. Wenn er heute an Kleingärten vorbeispaziert, staunt der Landschaftsgärtner über deren „enorme Aufrüstung“ mit Pflanzen, Pools und Hütten. „Auch daran sieht man, wie stark das Verlangen nach Grün in den letzten Jahren gerade in Städten explodiert ist.“
Beim Verband Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau Baden-Württemberg wundert man sich deshalb auch darüber, warum verantwortliche Stadtplaner in den Kommunen von dieser neuen grünen Sehnsucht so wenig mitbekommen haben. „Wo erlebt man es denn noch, dass neue Freizeit-Gartenanlagen erschlossen werden? Da wird seit Jahrzehnten nur der Bestand verwaltet und der reicht einfach längst nicht mehr“, sagt Reiner Bierig, Geschäftsführer des Verbands Garten- Landschafts- und Sportplatzbau Baden-Württemberg.
Den Einwand, dass in den dicht besiedelten Städten auch dafür der Platz fehlt, lässt er nicht gelten. „Da muss man eben mal ein bisschen kreativ werden und sich beispielsweise in Industriegebieten umschauen. Auf den Dächern von Lagerhallen wäre doch jede Menge Platz für Kleingärten!“ Etwas mehr grüne Fantasie wünscht sich Reiner Bierig auch beim Bau von Mehrfamilienhäusern. „Da dürfte durchaus mehr gewagt werden als der obligatorisch vorgeschriebene Mini-Spielplatz mit einem Zipfel Rasen und einer Hecke drum herum.“
Ein mutiges Beispiel für einen Mehrfamilienhaus-Garten der Zukunft findet sich in Heilbronn. Auf dem Gelände der Bundesgartenschau von 2019 steht im Stadtquartier Neckarbogen Apollo 19 – ein sechsgeschossiges Wohn- und Geschäftshaus einer Baugemeinschaft mit neun Mitgliedern. Der Wunsch aller Bauherren: eine Gartenfläche auf dem Flachdach mit vielfältig nutzbaren Aufenthaltsflächen. „Uns war wichtig, dass es sowohl Möglichkeiten gibt, gesellig in großer Runde beisammenzusitzen, als auch Rückzugsbereiche“, sagt Ellen Schneider-Kohler (69), die im Apollo 19 wohnt. Die freie Architektin hat immer mit Garten gewohnt. Als die Kinder aus dem Haus waren, haben ihr Mann und sie sich für den neuen Lebensabschnitt für eine Wohnung entschieden – bewusst aber auch weiterhin etwas mit Garten gesucht.
Nun genießt sie es, in 20 Metern Höhe Sonnenauf- und -untergänge zu erleben, mit den anderen Hausbewohnern in der Sommerküche zu kochen oder, von Stauden und Gehölzen geschützt, auf einer der kleinen Kies-Terrassen ungestört im Liegestuhl zu liegen. Die Bewohner kümmern sich gemeinsam um den Garten. „Ich schätze es sehr, dafür nicht mehr wie früher allein verantwortlich zu sein, aber mich dennoch weiterhin betätigen zu können“, sagt Ellen Schneider-Kohler. Und das Beste: „Bisher hat es noch keine Schnecke geschafft, die 20 Meter hoch in unseren Garten zu kriechen.“
Garten auf einer Tiefgarage
Damit mehr Menschen gerade in Mehrfamilienhäusern zu ein bisschen Garten kommen, würde Wohnpsychologe Uwe Linke grüne Dächer, begrünte Fassaden und Gemeinschaftsflächen rund ums Haus gerne zur Vorschrift machen. „Das wäre auch leicht leistbar, weil die Investitionen hier auf viele Köpfe verteilt werden“, findet Linke. Zur Pflege würde er keinen Gärtnerservice anrücken lassen, sondern die Bewohner selbst. „Dazu wären genügend bereit“, ist sich der Wohnpsychologe sicher.
Schließlich habe die grüne Sehnsucht der Menschen ihre Gründe. „Ein Garten oder Balkon erweitern den Wohnraum um eine Komponente, die der gebaute Raum nicht bieten kann. Es ist draußen heller, Pflanzen lassen die Menschen durch ihre Langsamkeit zu Ruhe kommen und beim Gärtnern können wir ein bisschen Gott spielen“, sagt Linke.
Einen solchen grünen Erholungsraum hat Familie B. aus dem Großraum Ludwigsburg während der Coronapandemie auch herbeigesehnt. Durch die Arbeit im Homeoffice wurde der dreiköpfigen Familie ihre Erdgeschosswohnung zu eng. Seit einigen Monaten haben sie nun einen 100 Quadratmeter großer Garten – und das ganz ohne Umzug. „Wir haben die Tiefgaragendecke miteinbezogen. Jetzt gibt es dort ein Holzdeck, eine Outdoor-Küche, einen Nutzgarten und Rasenfläche“, sagt Garten- und Landschaftsbauer Manuel Rohland aus Benningen, der mit seiner Firma den Garten der Familie B. größer gezaubert hat.
Der bescheidene Garten der Familie Walden mitten in Stuttgart, der Dachgarten mit verschiedenen Aufenthaltsbereichen in Heilbronn, die begrünte Tiefgarage im Großraum Ludwigsburg: Alles Beispiele Zeigen, dass es durchaus geht, auch in Ballungsgebieten und trotz wenig Platz und teurem Grund zumindest ein kleines Stück eigenes Grün zu haben. Mit ein bisschen grüner Fantasie. Mit der Bereitschaft, den Garten zu teilen. Und mit der Einstellung, dass es gar nicht so viele Quadratmeter braucht, um sich eine grüne Oase zu schaffen. Hauptsache, man nutzt den Platz.